Der Lindenberger Drachenhöhenweltrekord
Original Schirmdrachen. Mit einem Gespann aus 8 Drachen dieses Typs wurde der Höhenweltrekord erreicht. | ||
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Umtrunk der am Aufstieg Beteiligten zur Feier des Rekordes am 01. August 1919. |
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Darstellung der während des Rekordfluges gemessenen Werte als Höhenprofil: Luftfeuchte (schwarz), Temperatur (rot), Druck (weiß) und Windgeschwindigkeit (blau). Grafik: Wettermuseum, Hintergrundbild basierend auf Grafik von Antonio Cicolella. CC BY |
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Aufzeichnung der Original Meßwerte während des Rekordfluges. Aus Hergesell (1922), Die Arbeiten des Preußischen Aeronautischen Observatoriums bei Lindenberg | ||
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Schirmdrachen aus dem Windenhaus heraus fotografiert. | ||
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Schirmdrachen am Windenhaus 1 vor dem Start. | ||
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Schirmdrachen im Flug über dem Windenhaus.
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Im Guinness-Buch der Weltrekorde ist ein Höhenweltrekord für Drachengespanne verzeichnet. Der Rekord wurde am 1.8.1919 in Lindenberg aufgestellt und besteht heute noch.
Mit jedem Drachenaufstieg wurde ein registrierendes Messinstrument, ein Meteorograph, in die freie Atmosphäre hochgebracht. Kontinuierlich gemessen und aufgezeichnet wurden Luftdruck, Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit. Solche Drachenaufstiege fanden zum Teil mehrmals täglich statt, weil man die Messdaten möglichst aktuell haben wollte.
Weshalb wurden die Kosten und Mühen für Drachen-Höchstaufstiege unternommen?
„Sieht man von Sonderuntersuchungen ab, so erstrebt jeder aerologische Aufstieg das Erreichen einer größtmöglichen Höhe, um den Zustand der Atmosphäre möglichst vollständig erkennen zu können. ..Das Höhertreiben der Aufstiege ist nicht auf eine Sucht nach Rekorden zurückzuführen, sondern eine notwenige Aufgabe einer jeden aerologischen Beobachtungsstelle“ (schreibt K. Schneider, der Aufstiegsleiter des Weltrekordaufstiegs).
Drachenaufsteige konnten etwa zwei– bis dreimal so häufig stattfinden, wie Fesselballonaufstiege, weil sie den Wind zum Aufstieg brauchten, während Fesselballonaufstiege schon bei mäßigen Windstärken problematisch werden konnten. Und durch laufende Verbesserungen der Drachen wurde die Zahl der Abrisse und Verluste an Drachen, an Registrierungen und an Draht deutlich gesenkt und die durchschnittlichen Höhen erheblich gesteigert.
Dadurch konnte mit Drachen kontinuierlich in Höhen gemessen werden, die für bemannte Freiballonfahrten gefährlich waren und von Fesselballonen nur ausnahmsweise bei Schwachwind (1916 = 9.200 m) zu erreichen sind. Bei schwächeren Winden (< als 5 m/sec) konnte man allerdings auch Registrierballonaufstiege durchführen, die Höhen von 17 bis 19 km (Spitzenhöhe 25 km im Jahr 1910; Wege, S. 46) erreichten.
Warum zu dieser Zeit? Welche meteorologischen und physikalischen Fragen standen an? Gab es außerwissenschaftliche Interessen?
Ab 1916 fanden in Lindenberg Versuche statt, die in der Höhe gemessenen Daten per Fernübertragung über den Haltedraht unmittelbar zur Bodenstation zu übertragen. Eine zeitliche Beschleunigung in der Auswertung der aerologisch gewonnenen Messwerte war vor allem wegen des Bedarfs für die Luftfahrt-Beratung notwendig. Die Nutzung des Haltedrahtes für die Datenübertragung ließ sich zunächst vor allem bei Drachenballonaufstiegen bewerkstelligen und erst bei erfolgreichem gelingen auf Drachenhochaufstiege übertragen.
Bei aerologischen Messungen während einer Lindenberger Expedition nach Deutsch-Ost-Afrika war durch den Expeditionsleiter Arthur Berson gefunden worden, dass die von Assmann bereits 1902 entdeckte „obere Inversion“ (Stratopause) dort in bedeutend größerer Höhe liegt (17 bis 18 km), als in den Breiten von Deutschland (ca. 12 km). Auch fand er dort mit Drachenaufstiegen einen Höhenwind, der den bis dahin gefundenen Erkenntnissen völlig zu widersprechen schien. Und insgesamt war über die meteorologische Dynamik in den oberen Schichten der Troposphäre (also der untersten Schicht der Atmosphäre, in welcher sich das Wetter vor allem abspielt) manches noch nicht ausreichend bekannt. Deshalb waren möglichst hohe Drachen-Aufstiege im Regelbetrieb (2 – 3 täglich) kein Ausdruck von sportlichem Ehrgeiz, sondern wissenschaftlich geboten.
Für 2 Jahre fanden von 1917 bis 1919 schwerpunktmäßig Untersuchungen über den „täglichen Temperaturgang in der freien Atmosphäre auf der Grundlage von über alle Tageszeiten verteilten Aufstiegsterminen statt“ (promet, S. 88). Auch hierfür hatten Aufstiege in möglichst große Höhen eine beträchtliche Bedeutung.
Wer stand personell hinter dieser Leistung?
Der Weltrekord-Drachen war ein Schirmdrachen. Dieser Drachen-Typ war vom Tischler und Drachenbaumeister, Herrmann Schreck, für Richard Assmann in Lindenberg entwickelt und gebaut worden. Im Unterschied zu dem vorher benutzten Drachen-Typ (Normal-Drachen) in starrer Kastenbauweise, bestand der Schirmdrachen aus einer Spann- und Spreiz-Vorrichtung auf einem Mittelstab der beiden Zellen für Spreizstäbe und Drähte an den Außenkanten. Dieser Drachen-Typ wurde seit 1910 am Observatorium in Lindenberg fast ausschließlich eingesetzt, weil er sich leichter reparieren, aufbauen und zusammenlegen, sowie transportieren ließ, als der vorherige Kastendrachen („N-Drachen“). Außerdem zeigte er bessere Flugeigenschaften als vorher entwickelte „Normaldrachen“. (Diem/Schmidt, S. 150 ff). Der Schirm-Drachen („S-Drachen“) wurde vom Nachfolger, Otto Schreck, erfolgreich vermarktet. Er eignete sich hervorragend für Expeditionen und wurde weltweit verwendet.
Vor diesen Drachen-Typen gab es bereits andere, z. B. den von dem Engländer Lawrence Hargrave in Australien im Jahr 1893 entwickelten („cellular-kite“), sowie noch davor schon den Eddy-Drachen am Blue Hill Observatorium in den USA (ca. 1894), der seinerseits auf Drachen-Erfahrungen von Wilson, Melvill und Birt am Londoner Kew-Observatorium aufbaute. (Diem/Schmidt, S. 104 ff.). Eddy hatte sich vor allem für die Entwicklung von motorisierten Flugkörpern interessiert, dann aber die Tauglichkeit von Drachen vor allem für meteorologische Zwecke weiterentwickelt. Im Jahr 1897 berichtete Teissereinc de Bort von Drachenaufstiegen an seinem privat errichteten „Observatoire de Météorologie Dynamique“ in Trappes bei Paris, wo er u. a. hexagonal geformte Drachen verwendete (Diem/Schmidt, S. 62 ff.), ohne die verwendeten Drachenformen und -eigenschaften ausführlich zu dokumentieren. Auch an der Seewarte in Hamburg hatte Vladimir Köppen bereits zu dieser Zeit mit Drachenaufstiegen angefangen und dazu einen besonders leichten Drachen entwickelt, den Diamant-Drachen.
Welche Höhen wurden zu dieser Zeit normalerweise mit Drachen erreicht?
Die nachstehende Tabelle (aus promet, S. 86) gibt die Anzahl, die erreichten Durchschnittshöhen und die Höchsthöhen der Drachen-Ära in Lindenberg wieder:
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Zeitraum Anzahl Mittlere Höhe (Jahresmittel) in m Max. Höhe in m
mit Datum1905 – 1913 4.342 2.600 bis 3.600 6.780 (1910) 1914 – 1931 11.211 2.300 bis 4.000 9.750*(1919) 1932 – 1939 3.065 3.300 bis 4.300 7.950 ( 1939) 1905 - 1939 18.618 9.750*
* an anderer Stelle: 9.740 m
Wodurch gelang der Rekord hier in Lindenberg?
Auszugsweises Originalzitat aus „Bericht..“:
„Wegen des schwachen Bodenwinds ... entschloss ich mich zu einem Ballonaufstieg. Es zeigte sich jedoch, dass der Ballon stark abgetrieben wurde; er musste also wieder eingeholt werden. Der leichteste 10-qm-Drachen und der leichteste Draht wurden nun benutzt; trotzdem dauerte es etwa ½ Stunde, bis die ersten etwa 1.500 m Draht ausgelassen waren. Beim Anhalten fasste der Drachen die Windschicht und verschwand gleichzeitig im str (Stratus-Gewölk) in 950 m Seehöhe. Er konnte auch nach Auflösung des str wegen der Nähe der Sonne nicht mehr einwandfrei beobachtet werden. Auch weiterhin wurde noch ziemlich langsam ausgelassen, da die im Wind befindlichen Drachen stets den untersten Drachen bis in die Windschicht hinaufheben mussten. Als Hilfsdrachen wurden mit einer Ausnahme 8-qm-Drachen benutzt; der zweite Hilfsdrachen hatte 5 qm Fläche. Um 9 Uhr war die Stratusdecke soweit aufgelöst, dass eine ci-str-Messung mit dem Wolkenrechen möglich war, die für eine geschätzte Höhe von 8.000 m 17 m/sec ergab, eine Windstärke, wie sie sich für Hochaufstiege nicht günstiger denken lässt. Es wurde also trotz des nunmehr günstigeren stärkeren Bodenwindes langsam und vorsichtig weiter ausgelassen, da bereits 8000 m Draht und 47 qm Drachenfläche in der Luft waren. Um 11 ¼ Uhr war die Trommel leer: 15.000 m Draht, Stärke 0,6 bis 1,0 mm und acht Drachen (36 qm Fläche) mit einem Gesamtgewicht von 115 kg waren in der Luft. Das Dynamometer zeigte ebenfalls 115 kg. Während des Einholens machte sich nun der Einfluss des von Nordwest heranrückenden Tiefdruckgebietes bemerkbar: der Zug stieg auf 143 kg. Doch der Höhepunkt war bald überwunden, und der Zug begann langsam zu sinken. Da riss der Aufstieg ab. Der Grund hierfür konnte später nicht festgestellt werden......Von der erhaltenen Registrierung wurde ein Diagramm angefertigt....Bei 9.190 m ist die Barometerfeder an die Barometerdose gestoßen. Weiteres Steigen des Drachens wurde also nicht registriert, wohl zeigt aber die Temperaturkurve ein weiteres Fallen des Thermometers von -34,0º auf -37º und damit ein weiters Steigen des Drachens an. Nimmt man nun gleich bleibenden Temperaturgradienten an, so ergibt sich als erreichte Maximalhöhe 9.740 m. Eine nennenswerte Zunahme des Gradienten ist hier in der Nähe der Stratosphäre nicht zu erwarten, eine Abnahme ist nicht ausgeschlossen, bedingt aber eine noch größere erreichte Höhe des Aufstiegs.“
Könnte der Rekord heute in Deutschland oder anderswo gebrochen werden?
Für einen solchen Aufstieg müssen einige wichtige Faktoren zusammenkommen:- Es müssen eine geeignete Aufstiegswinde und mehrere Hilfs-Drachen sowie entsprechender Draht in ausreichender Länge vorhanden sein.
- Es müssen sehr günstige Winde in den verschiedenen Höhen wehen.
- Es muss geübtes Personal geben.
- Es muss eine Erlaubnis vorliegen, die heute kaum noch zu erhalten ist. da es sich bei Höhen um 10.000 m um die Verkehrsflughöhe des internationalen Flugverkehrs handelt. Es müsste für ein „Gebäude“ mit einer entsprechenden Höhe (mehr als 10.000 m!) eine Baugenehmigung (!!) beantragt werden.
Literatur
- Diem, Walter/ Schmidt, Werner „Wetterdrachen von Benjamin Franklin bis Rudolf Grund – Geschichte und Geschichten“, Norderstedt 2010
- Deutscher Wetterdienst (Hg.) „100 Jahre Atmosphärenforschung am Meteorologischen Observatorium Lindenberg 2005“ (in der Reihe promet, Heft 2 – 4, 2005)
- Wege, Klaus (Herausgeber: DWD) „Die Entwicklung der meteorologischen Dienste in Deutschland“, Offenbach a. M. 2002
Bildquellen: Alle historischen Bilder entstammen dem Bildarchiv des Meteorogischen Observatriums Lindenberg.